LYU Chen (Universität Heidelberg) ist zu Gast am Konfuzius-Institut |
Am 3. Juni 2025 war Frau LYU Chen, Doktorandin an der Universität Heidelberg, zu Gast am Konfuzius-Institut Metropole Ruhr. In ihrem Vortrag beleuchtete sie die historische Rolle John Rabes sowie die vielschichtige Erinnerungskultur rund um seine Person und sein Tagebuch.
Den Auftakt bildete ein Überblick über die Lage in China im Jahr 1937: Mit dem Ausbruch des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges entwickelte sich die Situation in Nanjing, der damaligen Hauptstadt, dramatisch. Während wohlhabendere Bewohner:innen die Stadt frühzeitig verlassen konnten, blieb der ärmere Teil der Bevölkerung ebenso zurück wie etwa 20 Ausländer – darunter John Rabe –, die sich in moralischer Verantwortung sahen, die Zivilbevölkerung zu schützen. In diesem Kontext entstand die sogenannte Nanjing Safety Zone, ein Schutzgebiet, das von ausländischen Helfern eingerichtet und von Rabe als Vorsitzendem koordiniert wurde.

Der gebürtige Hamburger John Rabe kam 1911 als Siemens-Mitarbeiter nach China. 1933 gründete er auf seinem Privatgrundstück eine deutsche Schule, ein Jahr später trat er in die NSDAP ein – ein Aspekt seiner Biografie, der bis heute für Diskussionen sorgt. Mit Ausbruch des Krieges nutzte Rabe sein Parteisymbol strategisch: Rabe hisste die Hakenkreuzfahne in seinem Garten – ein Zeichen der Zugehörigkeit zum mit Japan verbündeten Nazi-Deutschland. Sein Haus wurde nicht bombardiert.
Getrieben von einem Verantwortungsgefühl gegenüber seinen chinesischen Angestellten, blieb Rabe in Nanjing und begann im September 1937 ein Tagebuch zu führen – eine der zentralen Quellen über das Nanjing-Massaker. Als Vorsitzender der Nanjing Safety Zone organisierte er Schutzräume für Flüchtlinge. In seinem eigenen Haus fanden hunderte Menschen Zuflucht.
LYU Chen stellte anhand des Tagebuchs eindrücklich dar, wie sich der Alltag unter Kriegsbedingungen gestaltete: Ab Oktober 1937 kam es zur akuten Hungerkrise. Rabe beschreibt die verzweifelte Suche nach Nahrung, den „Bohnenbrei“ als Notmahlzeit, sowie die Misshandlungen durch japanische Soldaten. Das Gesundheitswesen brach zusammen und Krankheiten wie Typhus und Beriberi breiteten sich aus. Obwohl Rabe selbst an Diabetes litt, nimmt er im Tagebuch kaum auf seine eigene Gesundheit Bezug und legt den Fokus stets auf dem Leid der anderen.
Rabe beschreibt auch, dass der Tod allgegenwärtig war und Zivilist:innen dem Willen der japanischen Besatzung ausgeliefert waren. Rabes Aufzeichnungen berichten von verweigerten Bestattungen, sich stapelnden Leichen und einer Stimmung der Hoffnungslosigkeit. Rabe verstand sein Tagebuch als Zeugnis gegen das Vergessen: Das Gegenteil von Leben sei nicht Tod, sondern das Vergessen – so LYU in ihrer Analyse.

In der Nanjing Safety Zone übernahm Rabe eine Rolle, die an einen Bürgermeister erinnerte. Er verurteilte Unrecht konsequent – unabhängig von Nationalität – und kritisierte deutsche, japanische wie chinesische Verhaltensweisen gleichermaßen. Sein Tagebuch wurde so zu einem Friedensappell. Neben persönlichen Erlebnissen enthält es internationale Presseberichte, diplomatische Depeschen und Fotos – ein vielschichtiges Zeitdokument mit klarer moralischer Haltung.
Nach dem Krieg kehrte Rabe nach Deutschland zurück, wo er unter Armut litt und 1950 verstarb. Erst Jahrzehnte später wurde sein Tagebuch veröffentlicht – maßgeblich durch die Initiative der US-amerikanischen Autorin Iris Chang 1996. Es folgten Übersetzungen ins Chinesische, Englische und Japanische. 2009 wurde Rabes Leben verfilmt, außerdem entstand eine Oper mit dem Titel 拉贝日记 (Rabes Tagebuch). In Nanjing erinnert das John Rabe Haus an sein Wirken, und seit 2009 wird zudem der John-Rabe-Friedenspreis verliehen.
Die Rezeption seiner Person fällt jedoch sehr unterschiedlich aus: In China wird er als ‚lebender Buddha‘ verehrt, während in Deutschland seine NSDAP-Mitgliedschaft eine differenzierte Betrachtung seiner Person erfordert. LYU Chen betonte, dass nationale Erinnerungskulturen sich nicht widersprechen, sondern einander ergänzen können – gerade am Beispiel John Rabes.